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(Frage) beantwortet | Datum: | 16:55 Mi 29.01.2014 | Autor: | Ladon |
Hallo zusammen,
bei einem Aufenthalt in Prag ist mir die Inschrift über dem Eingang zum jüd. Friedhof (unten links) aufgefallen. Ich wüsste nur zu gerne, was die Worte bedeuten, um mein Verständnis für jüd. Kultur und Geschichte in Bezug auf jenen besonderen Ort zu vertiefen.
Kann mir jemand die Worte übersetzen? Ich würde mich sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Ladon
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Hallo Ladon,
ich versuchs mal.
> bei einem Aufenthalt in Prag ist mir die
> Inschrift über dem Eingang zum jüd. Friedhof (unten links)
> aufgefallen. Ich wüsste nur zu gerne, was die Worte
> bedeuten, um mein Verständnis für jüd. Kultur und
> Geschichte in Bezug auf jenen besonderen Ort zu vertiefen.
> Kann mir jemand die Worte übersetzen? Ich würde mich
> sehr freuen.
Sie sind ungewöhnlich. Es handelt sich ja nur um einen kurzen Satz (vier Wörter), wovon drei hebräisch sind und eins aramäisch ist. Letzteres kann ich mir sogar erklären, bin aber über diese Verwendung überrascht.
Transkription: Hiwri kaddischa gomlee chasidim.
Übersetzung: Der Heilige wird die Dankgebete der Frommen heilen.
edit:
Nach Diskussion mit jüdischen (z.T. ziemlich "gelehrten") Freunden haben wir uns auf eine andere Übersetzung geeinigt, die aber den folgenden Erläuterungen vollauf genügt. Der siegreiche Vorschlag kam von einem Amerikaner, der Deutsch so ungefähr als Fünft- bis Sechstsprache spricht...
Wiederherstellen wird der Heilige die Errettungsgebete der Frommen.
Das ist kein biblisches Zitat, schon das ist ungewöhnlich an dieser Stelle. Jedes Wort ist dabei mehrdeutig, von daher wird es mit jeder Deutung auch eine andere Übersetzung geben.
Der Reihe nach:
1) Hiwri kommt vom Verb "bara", das erschaffen bedeutet. Hier allerdings in einer Verbform (Hifil), die eher heilen bedeutet, etwa wieder neu machen.
2) "kaddischa" ist aramäisch und eine Gottesbezeichnung. Juden schreiben nie das Tetragramm (den Gottesnamen) und sprechen den Namen auch nie aus. Stattdessen spricht man im Gottesdienst den Namen als "Adonai" (mein Herr) aus. Fromme Juden würden selbst das nicht einmal in einer Talmudschule aussprechen, sondern das Kunstwort "Adoschem", das seinen ersten Teil von Adonai erbt, und der zweite Teil "schem" einfach Name bedeutet.
Dass allerdings eine aramäische Form im hebräischen Text vorkommt, ist eine mir noch nicht bekannte Form, das Schreiben, Lesen oder Sprechen des Gottesnamens zu umgehen.
3) "gomlee" kommt vom Verb "gamal", entlohnen. Hier ist es aber nicht als Verb gebraucht, sondern als Partizip. "hagomel" ist der Name für ein bekanntes, feststehendes Gebet, das man als Dank nach der Errettung aus großer Not oder Bedrängung spricht. Es hat darin eine gewisse Verwandtschaft mit den katholischen Votivtafeln.
Die Form "gomlee" (eigentlich steht da nur ein e, aber das ist eben breit und trägt die Betonung) ist Plural und verbindet wie eine Genitivverbindung das Wort mit dem nächsten:
4) "chasidim", ebenfalls Plural, Fromme. Durch die Verbindung mit dem vorhergehenden Wort wird es determiniert: die Frommen.
Nun ist das eine geschichtsträchtige Selbstbezeichnung einer osteuropäischen jüdischen Erweckungsbewegung, im Westen als "Chassidismus" bezeichnet. Sie begann gegen Ende des 16. Jahrhunderts und hatte ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert. Eines der ganz großen frühen Vorbilder war der Prager Rabbi Jehuda Löw, der auf diesem Friedhof beerdigt ist.
Und hier kommt das Wortspiel noch einmal ganz groß heraus. Rabbi Löw gilt als der Schöpfer des Golem (ein Wort, das überhaupt nicht mit "gomel/hagomel/gomlee" verwandt ist, aber eben doch anklingt. Und der Legende nach war dieser Golem ja sozusagen Lehm, dem der Schöpfungsgeist eingehaucht wurde.
Das erinnert jeden Juden an die ersten Worte der Bibel: bereschit bara elohim ät-haschamajim weät-haaretz - am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und das zweite Wort hier ist gerade "bara", mit dem die kurze Inschrift ja beginnt.
Außerdem war Löw Mystiker, und die jüdische Mystik bedient sich auch sehr stark des Aramäischen.
Das Gebäude (und der Schrifttyp) scheint mir erst aus dem 19.Jahrhundert zu stammen, so dass die Anspielung auf die Bewegung der Chassidim wirklich gut sein kann.
So. Viel Text für eine Inschrift von vier Wörtern, aber ich dachte, ich sollte Dir etwas von der Vielzahl der Anklänge darin mit berichten.
Grüße
reverend
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 18:34 Do 30.01.2014 | Autor: | Infinit |
Hallo reverend,
mit dieser Erläuterung hast Du auch mir viel Freude bereitet. In diesem Gebäude, das ich vor gut sechs Jahren auch mal bei einem Prag-Besuch fotografierte, ist heute das Jüdische Museum untergebracht. Es handelt sich ursprünglich um die Zeremonienhalle der Prager Beerdigungsbruderschaft und wurde um 1911 herum erbaut. Man findet darin eine sehr schön aufbereitete Übersicht über die unterschiedlichen Beerdigungsriten und die dazugehörigen Gebräuche.
Viele Grüße,
Infinit
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 22:38 Do 30.01.2014 | Autor: | reverend |
Hallo Infinit,
das ist ein überraschender Dank, der mich freut.
Mir wird bei diesem Thema klar, dass ich doch unbedingt mal nach Prag muss; da war ich noch nicht. Als nächstes ist allerdings entweder Venedig oder Wien dran, die warten auch noch auf meinen Erstbesuch.
Zwar bin ich viel gereist, aber diese drei Städte (zusammen mit wenigen anderen in Europa - z.B. Barcelona, Stockholm, Oslo, Riga, Tallinn, Istanbul) stehen weit oben auf der Liste der Ziele, die ich unbedingt noch sehen möchte. Dafür ist aber rein statistisch noch viel Zeit...
Herzliche Grüße
reverend
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 22:36 So 02.02.2014 | Autor: | Ladon |
Vielen Dank für diese äußerst informative Erklärung! Besonders der Verweiß auf die Bewegung des Chassidismus ist faszinierend. Die Antwort hat meine Erwartungen mehr als übertroffen und meinem Verständnis für die jüdische Kultur in Prag einen weiteren Mosaikstein hinzugefügt. Vielen Dank!
MfG
Ladon
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 00:19 Mo 03.02.2014 | Autor: | reverend |
Hallo Ladon,
> Vielen Dank für diese äußerst informative Erklärung!
Gern geschehen. Ich bin ja hier, um Wissen weiterzugeben. Sonst wäre es unnütz gewesen, es anzusammeln.
> Besonders der Verweiß auf die Bewegung des Chassidismus
> ist faszinierend. Die Antwort hat meine Erwartungen mehr
> als übertroffen und meinem Verständnis für die jüdische
> Kultur in Prag einen weiteren Mosaikstein hinzugefügt.
Du findest antiquarisch viel günstige Literatur über die Hochzeit (mit langem o) des Chassidismus, darunter chassidische Erzählungen, u.a. herausgegeben von Martin Buber - in ausgezeichneten Übersetzungen. Die Mischung von Mystik und Erweckung, alles durchdringender Frömmigkeit und Lebensnähe ist uns heute oft fremd. In den Geschichten wird sie aber sehr lebendig.
Prag war, wie viele osteuropäische (bzw. nach damaligem Verständnis durchaus mitteleuropäische) Städte, ein wichtiger Ort des Judentums. Auch dort gab es eine beginnende Aufspaltung jüdischer Traditionen, die zu den heute als "liberal" und "orthodox" bezeichneten Richtungen führten.
Rabbi J(eh)uda Löw war wohl eher orthodox, auch wenn es die Richtung noch nicht gab, ein großer Gelehrter mit vielen Kenntnissen, religiös und "weltweise" zugleich. Beide heutigen Richtungen berufen sich auf ihn.
Über die beiden großen geistlichen Führer des Chassidismus, den Baal Schem Tow (wörtlich: Herr des guten Namens) und Rabbi Dow Bär (interessanter Name: Dow ist das hebräische Wort für "Bär"), findest Du genügend im Internet.
Das Kerngebiet des Chassidismus waren wohl das osteuropäische Galizien (also nicht die spanische Region gleichen Namens) und benachbarte Regionen wie Wolhynien, Bessarabien etc., alle etwa in der heutigen Ukraine und dem südlichen Polen gelegen. Die dortigen jüdischen Sprachen waren Hebräisch und Jiddisch, eine Kreolsprache (im technischen Sinne), die aus Hebräisch und Deutsch mit wenigen slawischen Einflüssen geboren wurde.
Schon im heute deutschen Gebiet waren diese Einflüsse nicht so stark. "Unsere" Orthodoxie hatte eine andere Frömmigkeit. Die osteuropäischen "Aschkenasim" waren hier nicht so sehr prägend, sondern der recht gleichmäßige Kontakt mit den süd- und westeuropäischen "S(e)phardim". In der Aussprache des Hebräischen war man eher aschkenasisch geprägt, in der Bildungskultur aber oft eher s(e)phardisch.
Ein typisches Beispiel ist Baruch Spinoza, Bürger der spanischen Niederlande, natürlich vielsprachig, aber in seiner Philosophie deutlich s(e)phardisch geprägt (und natürlich auch persönlich ausnehmend originär), liturgisch aber sehr vertraut mit dem aschkenasischen Judentum, auch wenn es nicht seine Heimat war.
In Amsterdam z.B. gab und gibt es ein langes Nebeneinander beider Richtungen, während Prag in fast allem außer dem wissenschaftlichen Denken eher osteuropäisch, aschkenasisch geprägt war.
Wenn Du diese Geschichte studieren willst, hast Du viel vor Dir. Aber ich kann Dir garantieren, dass es spannend ist und bleiben wird. Du wirst viele Geschichtsdeutungen finden, die einander zum Teil sogar widersprechen. Trotzdem ist eigentlich keine falsch.
Ganz in der jüdischen Tradition darum eine kleine Geschichte. Ich bin nicht sicher, woher sie stammt, aber es könnte gut aus talmudischer Zeit sein:
Zwei Parteien treten vor das Gericht. Die anklagende Partei trägt ihr Anliegen vor, und warum es die einzig richtige rechtliche Sichtweise ist. Der Richter entgegnet: Sie haben Recht.
Die Gegenpartei empört sich, dass sie doch noch gar nicht gehört worden sei. Der Richter gibt ihr das Wort und sie trägt ihre Sichtweise vor. Darauf der Richter: Sie haben Recht.
Darauf der Ankläger: Sie haben doch vorhin uns Recht gegeben. Da können die Verteidiger doch nicht auch Recht haben?
Darauf der Richter: Da haben Sie natürlich auch Recht.
Hier endet die Geschichte. Sie ist ein perfektes Beispiel für jüdisches Denken, jüdische Philosophie (genauer: Epistomologie). Hier gibt es kein "tertium non datur", keine binäre Wahrheit, sondern ein Denken im Kontinuum.
Das beginnt in frühester (mischnischer) Zeit mit den unterschiedlichen Lehren der großen vortalmuldischen Lehrer Hillel und Schammai - etwa zur Zeit Jesu.
Ich selbst bin Christ, habe aber vom Judentum vor allem Barmherzigkeit gegenüber "anderem" Denken lernen dürfen. Statt auf Wahrheit zu beharren, war immer gemeinsames Anliegen, eine so vorsichtige Auslegung zu finden, dass alle Beteiligten sich damit abfinden konnten.
Das klassische Beispiel ist die Trennung von Milch- und Fleischprodukten. Undenkbar sind Cordon Bleu, Ragout in Sahnesoße, mit Käse überbackenes Fleisch etc. Das alles geht auf den Bibelvers "Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch" zurück. Das ist Thora, Weisung (oder, wie manche verschärfen, Gebot - auch wenn es dafür ein anderes Wort gibt, Mitzwah). Um sie nicht zu verletzen, wird das Gebot vorsichtshalber lieber ausgeweitet. Das nennt man: einen Zaun um die Thora ziehen. Der Gedanke ist sehr alt und taucht schon in den "Sprüchen der Väter" auf. Wer das christliche "Neue Testament" genau liest, wird erkennen, dass Jesus genauso argumentiert hat, aber schon Paulus hat das nicht mehr ganz verstanden, obwohl er selbst religiös gebildeter Jude war (immerhin ein Schüler Gamaliels I, Enkel des o.g. Hillel).
Wenn Du das wirklich alles studieren willst, hast Du Arbeit vor Dir. Aber gerade im Umgang mit unserer deutschen Geschichte kann ich Dich nur ermutigen, da weiterzumachen.
Viel Erfolg dabei!
Grüße
reverend
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 11:00 Mo 03.02.2014 | Autor: | Ladon |
Der Hinweis auf Martin Buber scheint sehr fruchtbar zu sein. Deine Ausführungen zum jüdischen Gedankentum haben mich gefesselt. Sie haben mich veranlasst einmal mehr die Epistemologie des Judentums als persönliches Studienobjekt anzunehmen, auch wenn die Grenzenlosigkeit dieses Gebiets eine wahre Sisyphusarbeit (im Sinne des Nie-enden-wollens) garantiert.
MfG Ladon
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(Antwort) fertig | Datum: | 13:43 Mi 16.04.2014 | Autor: | Yudit |
Hallo
חברא קדישא גומלי חסדים
ausgesprochen: Chevra kadischa gomlei chassadim
wobei: chevra kadischa = Beerdigungsgesellschaft (auf aramäisch), also diese Leute, die einen Toten für die Beerdigung bereit machen, waschen, begraben etc.
Gomlei Chassadim ist deren Name. Ich nehme an, dass dies einfach der Name der Gemeinde ist/war. Wie zum Beispiel "Jüdische Gemeinde Entenhausen" oder so, nennt sich diese Gemeinde "Gomlei chassadim". Der Name "Gomlei chassadim" heisst "Retter der Frommen" (fromm klingt so blöd, oder?) auf hebräisch.
alles in allem: "Beerdigungsgesellschaft der jüdischen gemeinde "Gomlei chassadim", nichts von Gebet oder so.
Gruss Yudit
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נא לשים לב להוראות לשימוש בהתעללות מסוכנת
Jetzt bin ich mal neugierig auf die Interpretation dieser Inschrift duch einen zukünftigen Archäologen ...
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 08:06 Fr 17.10.2014 | Autor: | Ladon |
Meine alte Diskussion wird wiederbelebt.
Nur so interessehalber: Woher stammt deine Inschrift?
MfG
Ladon
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 21:56 So 19.10.2014 | Autor: | reverend |
Hallo,
> Meine alte Diskussion wird wiederbelebt.
> Nur so interessehalber: Woher stammt deine Inschrift?
Das wüsste ich auch gern. Hebräisch ist es nicht, aber ich kann weder einen jiddischen noch spaniolischen Sinn erkennen. Quelle und Kontext wären also wirklich hilfreich.
Grüße
reverend
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 01:20 So 19.10.2014 | Autor: | matux |
$MATUXTEXT(ueberfaellige_frage)
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 21:59 So 19.10.2014 | Autor: | reverend |
Hallo nochmal,
das was Yudit da schreibt, ist sehr plausibel. Ich möchte meine Deutung zwar nicht zurücknehmen, aber wie man sieht, ist sie keineswegs die einzig mögliche oder stringente.
Danke für den Hinweis, Yudit!
Sorry, ich habs vorher nicht gelesen.
Grüße
reverend
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